Gloria. Mohammed. Ein literarisches Dokument zwischen Empathie und Systemkritik

„Gloria. Mohammed.“ von Isabelle Flükiger ist ein bemerkenswertes Experiment, das die Grenzen zwischen Literatur und Dokumentation bewusst verwischt. Die Westschweizer Autorin hat acht Jahre lang für diesen „juristischen Roman“ recherchiert und dabei ein Werk geschaffen, das sowohl literarisch ambitioniert als auch politisch relevant ist.

Innovative Erzählform mit gesellschaftlicher Relevanz

Das Buch erzählt die Geschichten von Gloria aus Kamerun und Mohammed aus Marokko – zwei Sans-Papiers, die seit Jahren in der Schweiz leben und arbeiten, aber rechtlich nicht existieren dürfen. Flükiger gelingt es vortrefflich, ein Gleichgewicht zwischen juristischen Fakten und den fiktionalisierten Biografien ihrer Protagonisten zu schaffen. Dabei wird das eine nicht zum Rahmen für das andere – vielmehr werden beide Ebenen gleichberechtigt erzählt.

Die Autorin dokumentiert neutral und faktenreich, wie Menschen in der Schweiz zwar arbeiten, aber nicht existieren dürfen. Ihre Herangehensweise ist bemerkenswert: Sie vermeidet Wertungen und lässt Fakten und Figuren für sich sprechen. Diese Zurückhaltung ist sowohl Stärke als auch potenzielle Schwäche des Buches.

Gloria. Mohammed. Zwischen Distanz und Emotion

Positiv hervorzuheben ist Flükigers klare, direkte Sprache, in der „Empathie und Empörung, Sarkasmus und feiner Humor mitschwingen“. Die Autorin führt ihre Leser durch die dunklen Gebiete der Schweizer Migrationspolitik und macht dabei deutlich, wie rechtliche Grauzonen bewusst geduldet werden, um der Wirtschaft nicht zu schaden.

Kritisch zu betrachten ist jedoch, dass die neutral-dokumentarische Haltung zuweilen zu distanziert wirken kann. Während Mohammed als „19-jähriger Marokkaner, der in der Hackordnung auf der Baustelle ganz unten steht“ beschrieben wird und dessen „Haus seines Lebens hier zerbrechlich wie ein Turm aus Streichhölzern“ ist, bleibt die emotionale Wucht dieser Schicksale durch die sachliche Darstellung manchmal gedämpft.

Literarische Innovation mit Grenzen

Flükigers Ansatz, einen „juristischen Roman“ zu schreiben – ein Genre, das es im deutsch- und französischsprachigen Raum bisher nicht gab – ist durchaus innovativ. Die Verbindung von parlamentarischen Prozessen mit persönlichen Schicksalen schafft Klarheit in einem komplexen System.

Die zahlreichen Textversionen, die die Autorin zeitweise im Computer gespeichert hatte, deuten jedoch auch auf die Herausforderungen hin, die diese Mischform mit sich bringt. Nicht alle Leser werden sich mit der abwechselnden Darstellung von Fakten und Fiktion, unterbrochen von Kommentaren der Autorin zu ihrem eigenen Tun, anfreunden können.

Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit

„Gloria. Mohammed.“ ist zweifellos ein wichtiges Buch, das ein relevantes gesellschaftliches Thema aufgreift und dabei literarisch neue Wege geht. Flükigers gründliche Recherche und ihre Fähigkeit, komplexe rechtliche Zusammenhänge verständlich zu machen, verdienen Anerkennung. Das Werk öffnet notwendige Diskussionen über die Widersprüche unserer Migrationspolitik.

Dennoch bleibt zu fragen, ob die bewusst neutrale Haltung der Autorin dem emotionalen Gewicht der beschriebenen Schicksale immer gerecht wird. Ein Buch, das wichtige Fragen stellt – auch wenn es nicht alle Antworten liefert.

Verlag: https://rotpunktverlag.ch/

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